Hintergrund & Idee
Trotz der bestehenden allgemeinen Schulpflicht in Deutschland verlassen viele junge Menschen die Schule ohne Abschluss oder erlangen nicht denjenigen, der ihren eigentlichen Fähigkeiten entspricht. Häufig wenden sie sich selbst von der Schule ab, oder aber sie werden aufgrund von Schul- oder Prüfungsangst, Phobien oder sonstigen Problemen von ihr abgehängt bzw. ausgeschlossen. Entscheidend dabei ist oft nicht das vorhandene Potenzial der SchülerInnen, sondern die schwierigen Lebensumstände, in denen sie stecken. Die Hintergründe für einen Schulabbruch sind vielfältig. Dabei können unter anderem Armut, Migrationshintergrund, instabile Lebensverhältnisse, fehlender Rückhalt im Elternhaus, psychische Probleme oder Drogenkonsum eine wichtige Rolle spielen. Eine Abneigung gegen die Schule kann aufgrund schlechter Leistungen oder Erfahrungen erfolgen, oder aber durch die Angst zu versagen – oft trotz guter Leistungen! Weitere Gründe können fehlendes Zugehörigkeitsgefühl, welches zu Vermeidungsverhalten führt, aber auch Angst vor Mobbing und Gewalt sein, häufig begleitet von psychosomatischen Beschwerden. Diese Gründe führen oft dazu, dass SchülerInnen dem Unterricht vermehrt fernbleiben (Schulabsentismus) oder den Schulbesuch nach dem Erreichen des Hauptschulabschlusses beenden, obwohl ihre Fähigkeiten einem höheren Niveau entsprechen.
Der Schulabbruch selbst ist eine daraus folgende rational-kalkulierte Verabschiedung aus der Schule, welche auf eine Analyse mit dem subjektiven Ergebnis der Sinn- und Chancenlosigkeit durch eine weitere Teilnahme folgt. Hier eröffnet sich ein erhebliches schulisches Sinn-, Akzeptanz- und Integrationsdilemma bei einer bedeutsamen Minderheit (vgl. Thimm 2005). Die Hintergründe dafür liegen oft in Schulmüdigkeit, meist bedingt durch problematische Beziehungen zu Lehrkräften, teilweise aber auch anderen Faktoren wie überhöhten Leistungserwartungen des Elternhauses; aktive Schulverweigerung kann unter Umständen auch mit Disziplinarproblemen, Drogen- und Alkoholkonsum oder Delinquenz einhergehen – was oft bereits im frühen Alter zu Problemen innerhalb des Schulalltags und Beziehungen in der Schule führt (vgl. Stamm 2012). Diese Auffälligkeiten sind als Symptome zu werten und haben in der Regel tiefer liegende Gründe. Auch familiäre Belastungen durch Probleme im Elternhaus, psychische Probleme oder Mobbing können einen Schulabbruch begründen. Überbelastete SchülerInnen leiden beispielsweise unter der Trennung der Eltern, einer Schwangerschaft im Jugendalter, dem Verlust von engen Bezugspersonen, Verhaltensstörungen, eingeschränkten Fähigkeiten, Armut, Schulden, Sucht oder Kriminalität in der direkten Umgebung (vgl. Hyghen et al 2012).
Gerade in Großstädten wie Mannheim treffen viele Probleme unserer Gesellschaft aufeinander, auf die unser Schulsystem nicht ausreichend flexibel reagieren kann.
Fast 20 % der unter 18-Jährigen sind von Kinderarmut betroffen (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2020), 60 % der unter 16-Jährigen weisen einen Migrationshintergrund auf (vgl. 4. Mannheimer Bildungsbericht 2018) und die Schulabbruchquote lag bei ihrer letzten Erhebung 2017 bei 9,59 % (vgl. Deutscher Caritasverband e. V. 2019). Durch die Problematiken aufgrund der Corona-Krise wird diese Zahl in Zukunft allen Prognosen nach sogar weiter steigen.
Es ist ein Teufelskreis: Armut und schwierige Lebensumstände verschlechtern die Bildungschancen. Gleichzeitig ist es ohne einen (höheren) Schulabschluss kaum möglich, aus der Armutsfalle herauszukommen. Hinzu kommt, dass viele junge Menschen Probleme beim Berufseinstieg haben. Mannheim liegt mit einer Arbeitslosenquote von durchschnittlich 7,2 % im Jahr 2020 deutlich über dem baden-württembergischen Durchschnitt von 4,1 %. Die Wahrscheinlichkeit, einen sicheren Arbeitsplatz zu finden, verringert sich ohne einen entsprechenden Schulabschluss und eine darauf folgende Berufsausbildung deutlich. Das Arbeitslosigkeitsrisiko für junge Leute ohne Abschluss ist im Vergleich zu HochschulabsolventInnen mehr als siebenmal höher; dadurch sind soziale Integration und Teilhabe durch Erwerbsarbeit als Folge des Misslingens der Schülerlaufbahn hoch gefährdet (vgl. Thimm 2005). Steuert man hier nicht mit wirkungsvollen Bildungs- und Unterstützungsangeboten dagegen, landen zu viele junge Menschen, die eigentlich Potenzial haben, dauerhaft in den Sozialsystemen. Bereits vor einem Schulabbruch nimmt mit der Häufigkeit von Schulversäumnissen die Wahrscheinlichkeit für delinquentes Verhalten zu und es entstehen häufig negative Auswirkungen auf die sozial-emotionale Entwicklung der jungen Menschen – auch dies schlägt sich im späteren (Arbeits-)alltag nieder (vgl. Frings 2007). Die Auswirkungen auf ihr zukünftiges Leben werden dadurch auch zu einem ökonomischen und gesellschaftlichen Problem.
Auch wenn gewisse Risikofaktoren oft damit im Zusammenhang stehen, sind Schulabbruch und -absentismus kein klares Phänomen niedriger Bildung; ebenso sind keine relevanten geschlechtsbedingten Unterschiede erkennbar (vgl. Speck & Olk 2012).
Wichtig ist in diesem Kontext: Es gibt keine(n) typische(n) SchulabbrecherIn – die Faktoren für die jeweilige Entscheidung, die Schule abzubrechen, sind vielfältig bedingt und oft nicht selbst verschuldet.
Einen individuell geeigneten Schulabschluss zu erreichen ist auch dann realistisch, wenn der weitere Besuch einer Regelschule nicht mehr möglich ist, etwa aufgrund des Alters und/oder dem Erreichen/Überschreiten der Schulpflicht. Hierfür gibt es die Möglichkeit, den Abschluss über die Schulfremdenprüfung nachzuholen. Das andere SchulZimmer bereitet seine SchülerInnen auf diese Prüfungen individuell und differenziert vor.
Vor diesem Hintergrund ist die Idee des anderen SchulZimmers entstanden. Sie gründet auf der Überzeugung, dass junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen Bildungs- und Unterstützungsangebote brauchen, die genau auf sie zugeschnitten sind. Nur so besteht die Chance, dass sie dem Teufelskreis aus geringem Bildungserfolg und Armut entkommen können. Deshalb ist das Ziel des anderen SchulZimmers, diese jungen Menschen darin zu unterstützen, ihren individuell höchstmöglichen Bildungsabschluss zu erreichen, um so einen guten Berufseinstieg zu ermöglichen. Das andere SchulZimmer möchte ein Ort für die jungen Menschen sein, die ihr Leben in die eigene Hand nehmen und sich eine Zukunft durch Bildung aufbauen möchten. Es möchte ihnen einen Raum geben, in dem sie sich wohl und sicher fühlen und Unterstützung erfahren. Diese Unterstützung kann auch präventiv oder rehabilitativ erfolgen. Das andere SchulZimmer erfüllt somit die Definition einer alternativen Beschulungseinrichtung, die nicht mit staatlichen Regelschulen konkurriert, sondern diese ergänzt (vgl. Ricking 2012). Ein niedrigschwelliger Zugang und der individuelle Umgang mit SchülerInnen sorgt dafür, dass die Lust am Lernen (wieder) aufgebaut werden kann und umgeht den SchülerInnen bekannte negative Schulassoziationen, welche in der Vergangenheit zu Abwehrreaktionen geführt hatten. Im anderen SchulZimmer ist jede(r) SchülerIn wichtig – niemand darf verloren gehen. Deshalb werden nicht nur Lerninhalte vermittelt, sondern bei Bedarf auch entsprechende Hilfestellungen zur individuellen Konfliktbewältigung und Lebensgestaltung geleistet. Hierbei hilft die Vernetzung und Kooperation des anderen SchulZimmers, etwa mit Coaches, staatlichen Schulen, Einrichtungen der Jugendhilfe, Berufsberatung und Ausbildungs- oder Praktikumsbetrieben. Der differenzierte Einzel- oder Kleingruppenunterricht sorgt für wertvolle Bindungen und Bezugssysteme zwischen SchülerInnen und Lehrkräften sowie einem offenen, vertrauensvollen und authentischen Umgang miteinander. Die Unterrichtsgestaltung mit starker Lebensweltorientierung kann so individuell an den Bedürfnissen und Interessen der SchülerInnen orientiert werden, dass ein angenehmer und attraktiver Lern- und Handlungsraum entsteht, mit dem sie sich identifizieren und welchen sie auch selbst formen können. Im vertrauten Klima schaffen es die SchülerInnen auch regelmäßig, eine Entwicklung alternativer Verhaltensweisen zu durchlaufen, wodurch früheres Vermeidungs- oder Fluchtverhalten, Lerndefizite und Versagensängste reduziert und stattdessen Lernmotivation und die Festigung vorhandener Lernkompetenzen gesteigert werden können. So können sie nicht nur Lernen (wieder) erlernen, sondern auch Sozialkompetenzen und Perspektiven entwickeln, Wissenslücken füllen und neue Fähigkeiten, Interessen und Kompetenzen an sich entdecken, was eine ideale Vorbereitung auf den Übergang in das Berufsleben darstellt.
Diese ganzheitliche Förderung ist eine grundlegende Haltung im anderen SchulZimmer.